Auf Vorschlag von Heide Klijn stellen wir Ihnen monatlich ein Gedicht vor, das diesem Monat beziehungsweise der Jahreszeit gewidmet ist.
Wir führen die Reihe fort mit dem Gedicht „Abendstimmung in Scheveningen“ von Irmgard Keun.
Abendstimmung in Scheveningen
Es riecht nach Meer und jedes Sandkorn wacht.
Rot und verwildert schenkt die Sonne sich die Nacht
und braucht, noch untergehend, künftiger Tage Wände.Es riecht nach Meer. Sanft scheinen alle Blicke
der Fischermädchen mit dem strengen Schritt.
Sie wandeln still am Strand der Missgeschicke
und suchen manchmal ihrer Toten Hände
und suchen Wärme, die ins Salzgrab glitt.Die Leiche eines Flugzeugs rostet trüb im Sand
und unter Muscheln liegt ein kleiner Ball.
Die Kinder schlafen und es dröhnte der Schall
schwarzer Propellerkraft am abendroten Strande.Am Ufer schreiten knirschend die Soldaten
im Grau der Uniform und friedenssatt.
Sie schreiten fest im Wahne künftiger Taten
und sehnen flüchtig sich nach eigenem Lande –
Der Himmel schweigt das Meer wird schwarz und glatt.
Irmgard Charlotte Keun wurde am 6. Februar 1905 in Charlottenburg geboren. Sie besuchte zunächst eine Handelsschule, danach war sie als Stenotypistin berufstätig. Von 1925 bis 1927 besuchte sie die Schauspielschule in Köln. 1929 beendete sie ihre Schauspielkarriere und begann – ermutigt von Alfred Döblin – zu schreiben. Ihr erster Roman „Gilgi, eine von uns“ machte sie 1931 über Nacht berühmt. Am 17. Oktober 1932 heiratete Keun den Autor und Regisseur Johannes Tralow; die Ehe wurde 1937 geschieden. 1933/34 wurden ihre Bücher beschlagnahmt und verboten. Ihr Aufnahmeantrag in die Reichsschrifttumskammer wurde 1936 endgültig abgelehnt. Keun ging 1936 ins Exil, zunächst nach Ostende in Belgien und später in die Niederlande. Von 1936 bis 1938 hatte sie eine Liebesbeziehung mit Joseph Roth, die beiden trennten sich 1938. In Den Haag verfasste sie unter dem Eindruck der Besetzung durch die deutsche Wehrmacht im Juni 1940 das Gedicht „Abendstimmung in Scheveningen“.
Sie entschloss sich zur Rückkehr nach Deutschland und lebte bis 1945 in der Illegalität im Haus ihrer Eltern in Köln-Braunsfeld sowie in den kommenden Jahren in ärmlichsten Verhältnissen in einem Schuppen auf einem Ruinengrundstück in Köln-Braunsfeld. 1951 wurde die Tochter Martina geboren, den Vater hielt sie geheim. Ab den 1960er Jahren blieben Veröffentlichungen aus, Keun litt an Alkoholismus und verarmte. 1966 folgte ihre Entmündigung und Einweisung in die psychiatrische Abteilung des Landeskrankenhauses Bonn, wo sie bis 1972 blieb. Sie lebte in Bonn und Köln und starb am 5. Mai 1982 an Lungenkrebs.
Weitere Informationen: Wikipedia
Foto: Heide Klijn