Monatsgedicht Mai: Joseph Roth „Natur“

Auf Vorschlag von Heide Klijn stellen wir Ihnen monatlich ein Gedicht vor, das diesem Monat beziehungsweise der Jahreszeit gewidmet ist.

Wir führen die Reihe fort mit dem Gedicht „Natur“ von Joseph Roth.

Natur

Hinter den Häusern der Stadt, dort wo die Verbotstafeln stehn,
beginnt Gottes freie Natur, die den Menschen gehört.
Parzelliert und in Grundbüchern eingetragen sind
die Quellen, die Äcker, die Wälder, der Wind,
die Tannen, die Eichen, die Buchen, die Linden,
die Hasen, die Hirsche, der Lerchenschlag,
der Mond in den Nächten, die Sonne am Achtstundentag
und die Vögel, die, von Sorgen angeblich unbeschwert,
die segensreiche Ordnung dieser Welt verkünden – –
Leibeigene Eichkätzchen springen auf Eichen,
als wären sie unabhängig vom Kapital – –
und wissen nicht, dass unterdessen Förster ohne Zahl
auf hinterlistigen Pfaden zum Schießen schleichen – –
Nur die Schriftsteller wandern umher und werden Wunder gewahr
und schreiben Gedichte, Skizzen und Romane,
sie leben in ihrem göttlichen Wahne
und sterben vom menschlichen Honorar.
 

Moses Joseph Roth (* 2. September 1894 in Brody, Ostgalizien, Österreich-Ungarn; † 27. Mai 1939 in Paris) war ein Erzähler – vor allem seiner eigenen Biographie. Sein literarisches und journalistisches Werk besteht aus Zeitungsartikeln, Glossen, Reiseberichten, Feuilletons, Romanen und Erzählungen. Er gilt als einer der bekanntesten Journalisten der 1920er Jahre, als präziser Chronist, erfolgreicher Romanautor und engagierter Gegner des Nationalsozialismus. Roth wuchs in Österreich-Ungarn auf, studierte in Lemberg und Wien und war Soldat im Ersten Weltkrieg. Ab 1919 arbeitete er als Journalist für verschiedene Wiener, Berliner und Prager Zeitungen und Zeitschriften sowie für die Frankfurter Zeitung. Sein Roman „Das Spinnennetz“ erschien zunächst in der Wiener Arbeiter-Zeitung. Viele seiner Romane widmen sich dem Verlust von Heimat und der Erfahrung von Entwurzelung. Als Jude durfte Roth ab 1933 nicht mehr publizieren. Er verließ Deutschland endgültig und führte sein Engagement gegen die nationalsozialistische Diktatur im Exil fort. Die meiste Zeit lebte er in Pariser Hotels, aber auch in den Niederlanden. Im Exil engagierte sich Roth für die Flüchtlingshilfe, zum Beispiel für Entre‘ Aide Autrichienne. Intensive Verbindungen pflegte er unter anderem zu Stefan Zweig, Ernst Toller, Egon Erwin Kisch, Soma Morgenstern und Irmgard Keun. Der schwer alkoholkranke Roth war in seinen letzten Jahren deutlich gezeichnet von den politischen Verhältnissen und den Erfahrungen des Exils. Den Zweiten Weltkrieg erlebte er nicht mehr; er starb am 27. Mai 1939 im Pariser Armenhospital Hôpital Necker.

Quelle: Künstler im Exil 

Foto: Heide Klijn

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