Das Fahrrad ist das wichtigste Fortbewegungsmittel in den Niederlanden: 17 Millionen Niederländer besitzen 22,1 Millionen Räder. Rund 27% aller Fahrten werden hierzulande mit dem Fahrrad zurückgelegt. Fahrrad fahren alle, sogar die Mitglieder der Königsfamilie und Ministerpräsident Mark Rutte. Im niederländischen Parlament gibt es sogar einen Reparaturdienst für die Fahrräder der Abgeordneten. Doch wie kam es dazu, dass die Niederlande zur führenden Fahrradnation wurde?
Der Wandel vollzog sich erst in den letzten Jahrzehnten. Bis Ende des 19. Jahrhundert blieb das Rad relativ unpopulär. Am Anfang des 20. Jahrhunderts schlossen sich niederländische Bürger zusammen, um eigene Fahrradwege zu bauen. Zu einem globalen Radgiganten hat sich das Land damit aber nicht entwickelt. 1936 fuhr die zukünftige Königin Juliana am Tag ihrer Verlobung Tandemrad mit Bernhard zur Lippe-Biesterfeld im Garten vom Palast Noordeinde in Den Haag. Medienwirksame Fotos auf dem vom Fotographen geliehenen Fahrrad haben es dem deutschen Adeligen mit NS-Vergangenheit erlaubt, in die Niederländische Königsfamilie einzuheiraten (Foto).
Als die Massenproduktion von Automobilen aufkam, taten die Niederlande das, was viele andere Länder taten – sie ordneten ihre Städte dem Auto unter. Alles änderte sich in den 1970er Jahren. Niederländischen Städte waren mit Autos vollgestopft, man zählte 100 Autos pro 500 Einwohner. Enge Gassen, von denen viele im Mittelalter gebaut worden waren, waren nicht für solch starken Verkehr ausgelegt. Fußgänger fielen unter die Räder. 1971 starben mehr als 3.000 Menschen bei Verkehrsunfällen, darunter 500 Kinder. Daraufhin startete eine Bewegung „Stop de kindermoord“ (Hört auf, Kinder zu töten). Der öffentliche Aufschrei gegen Verkehrstote fiel mit der Ölkrise von 1973 zusammen. Das Königreich war unter den Ländern, die Israel im Nahostkonflikt unterstützten. Daraufhin verhängten die arabischen erdölexportierenden Länder ein Exportembargo. Das Öl wurde knapp. Diese beiden Ereignisse überzeugten die Regierung, die Stadtplanung, die als Hauptziel die Gewährleistung des freien Autoverkehrs verfolgte, aufzugeben und die Fahrradinfrastruktur auszubauen.
Mittlerweile gibt es in den Niederlanden 35.000 km Radwege bei einem Straßennetz von insgesamt 140.000 km. Es gibt auch eine Reihe von Straßen, die sowohl von Autofahrern als auch von Radfahrern genutzt werden, wobei letztere Vorrang haben. Hier finden Sie die Schilder „fietsstraat auto te gast“, was bedeutet, dass Autos hier Gäste sind. Etwa 60% der Kreisverkehre im Land haben einen Radweg, der von der Fahrbahn getrennt ist. In den meisten Städten haben Fahrräder Vorfahrt vor Autos. Viele Kreuzungen wurden neugestaltet, um das Risiko für Radfahrer zu verringern.
Und auch für Fahrradparkplätze haben sich die Niederländer etwas einfallen lassen. 2019 wurde in Utrecht der weltweit größte mehrstöckige Fahrradpark mit einer Kapazität von 12.500 Fahrrädern gebaut. Der zweitgrößte Parkplatz mit 8.500 Plätzen befindet sich am Hauptbahnhof von Den Haag. Vor einigen Wochen wurde in Amsterdam ein Unterwasser-Fahrradparkhaus für über 7.000 Räder eröffnet.
Wie unterscheidet sich eigentlich das niederländische Fiets von anderen Fahrrädern? Der Unterschied liegt darin, dass das Hollandrad für die tägliche Nutzung und nicht für Hobbysportler ausgelegt ist – wobei es auch in den Niederlanden unterschiedliche Fahrradtypen gibt: E-Bikes, Lasträder und auch Sporträder. Aber am meisten ist das sogenannte Omafiets, also Oma-Rad, verbreitet. Das klassische niederländische Design stammt aus dem 19. Jahrhundert und zeichnet sich in erster Linie durch tiefen Einstieg aus. Das überall sonst als „Damenrad“ bezeichnete Transportmittel wird in den Niederlanden von all denjenigen gefahren, die es bequem mögen oder einen Kindersitz hinten haben – also gefühlt von der Mehrheit der Radfahrer des Königreichs. Diese Bauart erlaubt es dem Fahrer beliebige Kleidung zu tragen, sich folglich für die Gelegenheit und nicht zum Radfahren anzuziehen.
Ein Omafiets ist ein Aufrechtrad. Man kann damit stundenlang fahren, ohne den Rücken zu belasten. Die aufrechte Haltung ermöglicht ebenfalls eine bessere Sicht auf die Straße in Großstädten. Auf einem Omarad finden sich meistens drei (oder gar keine) Schaltungen, eine einfache Hand- und/oder Fußbremse und ein mechanischer Fahrraddynamo. Die Kette ist meistens mit einem Gehäuse bedeckt. So ist das Rad optimal geschützt und kann einfach und schnell repariert werden. In Den Haag gibt es übrigens das erste Fahrrad-Café des Landes. Dort kann man seinen Drahtesel reparieren lassen, während man gemütlich ein „kopje koffie“ schlürft – „Lola bikes & coffee“ befindet sich in Noordeinde 91.
Die wohl einfachste Möglichkeit, das Radfahren in den Niederlanden auszuprobieren, ist, ein Omafiets auszuleihen. Fast auf jedem großen Bahnhof befinden sich Leihräder, die man mit einer persönlichen Transportkarte (der gelben OV-Chipkaart) für 4,45 Euro am Tag ausleihen kann. Übrigens fällt die Nutzung des Fahrrads in den Niederlanden unter die Kilometerpauschale – Arbeitnehmer, die zur Arbeit radeln, bekommen 19 Cent pro zurückgelegtem Kilometer erstattet, den gleichen Satz wie Autofahrer. Es lohnt sich also auf jeden Fall!
Quelle:
Not Just Bikes – Youtube Kanal
Text und Foto: Valentina Coquil